Dreads auf Reisen – von Sehgewohnheiten und Klischees

„Die Reise gleicht einem Spiel; es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite.“ Johann Wolfgang von Goethe

Das Reisen ist mittlerweile mein zweites Zuhause geworden. Entweder in meinem MiniVan oder buchbare Unterkünfte: auf Reisen zu sein bedeutet immer, sich etwas Neuem zu stellen, etwas Neues zu erfahren, über sich oder über den Ort, zu dem man reist. Diesen Sommer ging es unter anderem wieder an die Ostsee. Ich habe HIER bereits über das Reisen mit Dreads an die Ostsee geschrieben, aber diesmal sollten mich doch noch neue Erfahrungen erwarten.

Der Weg ist das Ziel: unfreiwilliger Stopp

Wir, das sind mein Mitbewohner, zwei Hunde und ich, tuckern gemütlich über die Autobahn. Wir sind seit etwa drei Stunden unterwegs, weitere drei liegen noch vor uns. Wie das Schicksal es so will, wird man manchmal zu einer Pause gezwungen, wenn es ohnehin Zeit wäre, sich die Beine zu vertreten.

Als vor mir in der Heckscheibe etwas aufleuchtet, kann ich es nicht wirklich sehen, bevor das Auto auf die rechte Spur wechselt und die Scheibe wieder aus meinem Blickfeld verschwindet. Das Auto, ein unauffälliger grauer Kombi, wechselt wieder auf meine Spur, wieder leuchtet etwas auf. „Bitte folgen. Zoll.“ Irgendwo im nirgendwo? Zischen Nordrhein Westfalen und Ostsee? Na ja, eine Leuchtschrift bedeutet immer etwas hochoffizielles, sowas wie „bitte folgen“, „Späti geöffnet“ oder „Gewinne, Gewinne, Gewinne.“, also folge ich dem Wagen, naiv rätselnd, warum wohl und halte schließlich an einer Tankstelle.

Im Kofferraum des Wagens ein ausgebildeter Hund, in meinem Kofferraum zwei gelangweilte, nicht ausgebildete Hunde, die den Mann, der da durch mein Fenster guckt, dennoch selbstbewusst in die Flucht schlagen wollen. „Zoll. Ausweis und Fahrzeugpapiere bitte.“ Seine Kollegin entscheidet schließlich, dass mein Mitbewohner mit seinem Hund eine Runde drehen soll, während ich das Auto nach und nach auspacken darf. „Den Koffer bitte raus.“ Koffer also raus wuchten. „Ist das Ihr Koffer?“, während er das fragt, öffnet er den selbigen und ein Tweet-Anzug in Herrengröße „Mir viel zu groß“ kommt zum Vorschein. „Nein, aber…“, setze ich an, bevor ich unterbrochen werde. „Den Rucksack bitte raus.“ Ich also den Rucksack raus, der Papiere und Bücher enthält. „Ist das Ihr Rucksack?“, fragt er wühlend. „Nein.“. Langsam wirkt er frustriert. „Die Tasche raus.“. Bevor er fragt, antworte ich „Ist nicht meine.“, und endlich wird mir klar: meine Taschen scheinen von größerem Interesse zu sein. Der sucht doch wohl nicht etwa…? Weil ich Dreads habe?…

Enttäuscht wird auch diese Tasche wieder in den Kofferraum gelegt. Der Beamte geht zum Beifahrersitz. „Die Handtasche bitte raus und auf.“, „Ist auch nicht meine….“, aber ich hole sie raus. Man könnte meinen, ich hätte gar keine Tasche dabei. Oder das heute einfach des Zolls Pechtag ist.

„Irgendwas sonst zu verzollen? Zigaretten? Alkohol?“ – „Ich trinke nicht.“ Spätestens jetzt breitet sich die blanke Enttäuschung auf seinem Gesicht aus. „Ja das nächste mal dann nicht auf der mittleren Spur fahren und folgen, wenn es da steht!“

Jau. Und wer ordnet jetzt meinen Kofferraum wieder?! Das war origamistische Kleinarbeit! Außerdem hätten wir uns viel Zeit erspart, hätte er einfach gesagt: „Guten Tag, Sie haben Dreads. Ich denke, Sie kiffen. Und das Gras will ich finden. Alle Ihre Taschen raus.“.

Vom Zoll in den Zoo

Nach ein paar weiteren Autostunden waren wir dann da: Hintertupfingen an der Ostsee. Um gleich zum Punkt zu kommen: ein gewisses Maß an angestarrt-werden bin ich gewohnt. Aus einer Kleinstadt kommend ist man mit ein, zwei Blicken vertraut, die einem verstohlen hinterhergeworfen werden. Aber offensichtliches, blankes Anstarren, mit Kopf drehen und stehen bleiben ist eine andere Nummer. An der Promenade zeigt sich das ganze Ausmaß: entweder bin ich ein Alien oder die, man weiß es nicht. Oder werde ich gleich mit Erdnüssen beworfen? Die Szene erinnert mich ein wenig an die Serie „Charité“. Dort gibt es eine Folge, in der Menschen anderer Herkunft aus ihren Ländern verschleppt und in den deutschen Zoo gesteckt werden, um begafft zu werden. Und langsam erinnere ich mich wieder daran, wie auch hier die Wahlen ausgefallen sind. Da wird von „Angst vor Flüchtlingen“ gesprochen. Aber solche sind hier weit und breit nicht zu sehen. Und wenn man auf mich schon so reagiert, erklärt sich auch die „Furcht vor dem Fremden“.

Wie schon bei meiner Reise in das Elbsandsteingebirge (ich berichtete HIER davon) tröste ich mich mit dem Gedanken, dass die Einheimischen „sowas“ vielleicht noch nie gesehen haben. Und doch ermüdet es mich. Ich fühle mich irgendwie unsicher – nicht im Sinne von „überfallen werden“, sondern unsicher im Auftreten. Sollte ich mich vielleicht unauffälliger kleiden? Meinen Hippie-Tarnanzug habe ich nicht dabei, was also tun? Nackt am Strand sein kam auch nicht so gut an und wurde mit Blicken quittiert, die ich nicht deuten will. Wie mein Mitbewohner immer zu sagen pflegt „Titts in the Wind!“, sprich: Brust raus, Bauch raus, Dreads raus. Und eine gewisse Scheißegal-Haltung reaktivieren, um auch hier, am Arsch der Heide, die Sehgewohnheiten ein wenig aufzubrechen. Ob nun der ein andere andere an seinem Stockfischbrötchen erstickt sein mag, kann ich nicht beurteilen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, meinen Urlaub zu genießen. Aber für alle, die sich auch manchmal wie ein Alien fühlen: du bist nicht allein. Bleib tapfer. Folge der Leuchtschrift, aber nicht der breiten Masse.

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