Darf man heute noch „Dreadlocks“ sagen? Wer hat die Dreadlocks eigentlich erfunden? Wo liegt der Ursprung dieser Frisur? Wie sieht es mit einer europäischen „Dreadlocks-Kultur“ aus – gibt es die überhaupt bzw. darf es sie geben? Sind Locs tatsächlich Kultur oder gehören sie zum menschlichen Körper natürlicherweise dazu? Was bedeutet kulturelle Aneignung im Bezug auf Dreadlocks? Darf ich als Weiße so einen Artikel überhaupt verfassen? Um diese schwierigen und hoch kontrovers diskutierten Themen soll es in diesem Artikel gehen.

Warum dieser Artikel?

Ich beschäftige mich seit über 15 Jahren mit Dreadlocks – damit, wie man mit ihnen lebt, wie sie mit einem leben, was sie für Menschen ausdrücken können, wie sie entstehen und wie man möglichst ästhetisch dabei nachhelfen kann, sie entstehen zu lassen. Unter uns: Das eine oder andere Vogelnest habe ich seitdem auch schon aufräumen dürfen – aber natürlich mit Passion und voller Hingabe (ich habe auf keinen Fall sowas wie „holyshitwhatisthat“ gedacht). Außerdem bringe ich seit über 10 Jahren professionellen DreadstylistInnen bei, wie sie Haare anderer in eine Form zaubern können, die ideal für den sogenannten Filzprozess sind, sodass die Haare zu Dreadlocks werden – zu diesem Zweck habe ich übrigens dieses Jahr die LocsAcademy gegründet. Man kann also sagen, dass mein (berufliches und privates) Leben sich mehr oder weniger um diese verfilzten Haarsträhnen dreht, die häufig auch liebevoll als Würmchen, Kopfspaghetti, Zotteln oder einfach nur als Locs bezeichnet werden.

Wenn man sich so intensiv mit dem Thema der verfilzten Haarsträhnen beschäftigt, kommt man nicht umher, sich auch mit der Frage zu beschäftigen, wo Dreadlocks eigentlich herkommen, was sie kulturell bedeuten und ob man mit dem Tragen von Dreadlocks vielleicht auch irgendwo anecken kann. Schließlich gibt es eine ganze Menge gesellschaftlich bedingte (negative) Klischees, die mit Dreadheads verbunden werden und gleichzeitig gibt es auch Menschen in der BPoC-Community hier bei uns in Deutschland, die sich rassistisch beleidigt fühlen, wenn Weiße Locs tragen. Als lesbische Frau erfahre ich regelmäßig persönliche und systematische Diskriminierung (ja, auch heute noch und daran hat auch die „Homoehe“ nichts verändert!), weswegen ich es besonders wichtig finde, diesen Themen nachzugehen. In diesem Beitrag möchte ich dich dafür sensibilisieren, dass Dreads mehr als nur eine Frisur sind, dass sie mehr als nur Fashion sind und dass kurzweilige „ich möchte auch ein bisschen Hippie sein“-Dreads als Privileg verstanden werden sollten.

First things first: Ist es okay, „Dreadlocks“ zu sagen?

Butter bei die Fische: Ich habe 2005 die DreadFactory gegründet. Damals hat sich (leider) noch kein Mensch mit dem Thema „Kulturelle Aneignung“ beschäftigt, auch nicht der befreundete Afroshop, der mir regelmäßig Kundschaft weitergeleitet hat. Ich habe ein ganzes Unternehmen um den Gegenstand „Dreadlocks“ herum aufgebaut und sollte ein Interesse daran haben, dass es nicht als rassistisch gilt, das Wort zu benutzen. Aber da ich damals in der Uni fleißig gelernt habe, dass man an ein Thema niemals nur einseitig herangehen darf, habe ich natürlich in diverse verschiedene Richtungen recherchiert und natürlich auch in die, die „Dreadlocks“ als Begriff kritisch sehen. Dieser Artikel wird also leider kein kunterbunter „ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“-Artikel, nach dem du dich möglichst gut fühlen sollst, weil du alles richtig machst (mit richtig viel Schultergeklopfe), sondern dieser Artikel soll dich zum Nachdenken und vor allem selber denken anregen.

Nun aber los: Der Begriff „Dreadlocks“ lässt sich zurückführen auf die Rastafari-Kultur. Schön zusammengefasst hat das Ciani Sophia Hoeder, die Gründerin des Rosamags (Das Rosamag ist nach eigenen Angaben „ein Online-Lifestylemagazin, dass afrodeutsche Frauen und Freunde informiert, inspiriert und empowert“):

Zu Beginn der industriellen Revolution begann die Rastafari-Bewegung unter der Schwarz-jamaikanischen Bevölkerung an Popularität zu gewinnen. Die Rastafari beziehen ihren Glauben aus drei Hauptquellen: dem Alten Testament, der afrikanischen Stammeskultur und der hinduistischen Stammeskultur. Bevor es den Namen “Rastafari” erhielt, nannten sich seine Anhänger “Dreads”, was Respekt vor Gott bedeutet. Ein Spruch lautete: “Je länger deine Dreadlocks sind, desto näher bist du am Schöpfer.” Um den Nazaritern und hinduistischen Holymen nachempfunden zu sein, begannen sie, ihr Haar in verfilzten Stilen zu tragen, und genau zu diesem Zeitpunkt kam der Begriff “Dreadlocks” zur Anwendung.

In der Rastafari-Bewegung gelten Dreadlocks politisch betrachtet als Symbol von Unabhängigkeit. Anstatt dem Modediktat der Weißen zu folgen, wird das krause Haar hier seiner Haarstruktur entsprechend verfilzt und nicht geglättet. Prinzipiell klingt das erstmal unproblematisch und okay. Allerdings erfuhr der Begriff später eine neue negative Konnotation. Weiter schreibt Hoeder:

Als der Rastafarianismus als Bedrohung für das Christentum angesehen wurde, begannen die Verfolgungen und somit auch die Redefinition des Begriffs “Dreadlocks”. “Dreadful”, angsteinflößend sowie die Bedeutung “Angst” wurde von nun an mit Locs in Verbindung gebracht.“ (Quelle: Rosamag (Stand Juli 2021))

Daraus können wir also mitnehmen, dass die Verwendung des Begriffs nicht ganz so easy ist, denn wenn du dich nicht als Rastafari identifizierst, kann es passieren, dass sich jemand davon beleidigt fühlt. Auch gibt es Stimmen, die überliefern, dass der Begriff als eine Art Schimpfwort verwendet wurde. Auf die Frage, welche Nutzung und Konnotationen der Begriff im heutigen Mitteleuropa erfährt, gehe ich weiter unten im Artikel ein, denn offenbar scheint die Nutzung dieses Wortes immer wieder in neuen Kontexten zu stehen und muss daher auch immer wieder neu bewertet werden.

Haben die Rastafari also Dreadlocks erfunden?

Wer oder welche Kultur die Dreadlocks erfunden hat, ist nicht wirklich zu beantworten. Hierbei steht auch die Frage im Raum, ob es überhaupt einer Kultur bedarf, um verfilzte Haarsträhnen als Haupthaar zu tragen. Gerne möchte ich hier noch einmal Hoeder zitieren, die verfilzte Haarsträhnen als „die älteste Frisur der Welt“ bezeichnet:

Allerdings kam der erste archäologische Beweis aus Ägypten. Dort wurden Mumien mit ihren Locks noch intakt geborgen. Unabhängig von ihrer Herkunft wurden Locks von fast jeder Kultur zu irgendeinem Zeitpunkt getragen. Römische Berichte besagen, dass die Kelten ihr Haar “wie Schlangen” trugen. Die germanischen Stämme und Wikinger waren auch dafür bekannt, ihre Haare in Locks zu tragen. Locks wurden von den Mönchen der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche, den Nazariten des Judiasmas, den Sufis von Qalandri, den Sadhu’s des Hinduismus und vielen anderen getragen! Es soll sogar Hinweise geben, dass frühe Christen Locks trugen.(Quelle: Rosamag (Stand Juli 2021))

Ich persönlich würde noch einen Schritt weiter gehen als Hoeder und behaupten, dass Dreadlocks genau betrachtet sogar die älteste „Nicht-Frisur“ sind, die es jemals gab. Verfilzte Haarsträhnen bilden sich allein dadurch, dass man die Haare einfach nicht kämmt. Ja, auch das glatte mitteleuropäische Haar hat die Eigenschaft, in Strähnen zu fallen und mit der Zeit zu verfilzen, sofern man es einfach seinem Schicksal überlässt und den Kamm beiseite legt. Je lockiger das Haar, umso mehr verfilzen die einzelnen Strähnen dann auch miteinander (quasi Nestfaktor 3).

Aus dieser biologischen Gegebenheit heraus ist es also absolut nicht verwunderlich, dass sich in der Geschichte der Menschheit immer wieder Hinweise darauf finden lassen, dass Locs in vielen verschiedenen Kulturen über den Globus verteilt getragen wurden. Ob im religiösen Kontext, aus praktischen Gründen oder einfach, weil Haare irgendwann automatisch zu Dreadlocks werden, wenn man sie nicht anders gestaltet, sei dabei dahin gestellt. Dass das menschliche Haupthaar verfilzen kann gehört offensichtlich und nachweisbar zu der Biologie des Menschen genauso dazu wie jedes andere Körperteil, weswegen es mehr als absurd ist, verfilzte Haarsträhnen (Dreadlocks) als ekelhaft oder unnatürlich zu bezeichnen (Du erinnerst dich an die Sache mit den Klischees).

Genau genommen ist jedes Kämmen artifiziell und damit weniger menschlich als das, was die Natur sowieso mit uns vorgesehen hatte. Das menschliche Haupthaar hat nicht mehr viele Aufgaben, aber ursprünglich kann man davon ausgehen, dass es vor Sonneneinstrahlung, Kälte und Fremdkörpern schützen sollte. Durch die Eigenschaft, verfilzen zu können, wird diese Schutzfunktion nochmal verdeutlicht, denn verfilzte Haare bieten mehr Stabilität, mehr Lichtschutz und mehr natürlichen Airbag, falls dir mal ein Felsen auf den Kopf fällt.   

Haare im Allgemeinen als Ausdruck von Weltanschauung

Das Haupthaar und die Art und Weise seiner Gestaltung sind die ersten optischen Auffälligkeiten, die anderen an einem selbst in den Blick geraten. Es umrahmt das Gesicht und trägt damit wesentlich zum Erscheinungsbild eines Menschen bei. Durch seine Nähe zum Gesicht ist es gegenüber allen anderen Körperteilen als Blickfang privilegiert. Auf diese Weise erfährt die Frisur einen besonderen Stellenwert der eigenen Selbstdarstellung. Diese Eigenschaft liefert den Grundstein dafür, mit Frisuren mehr als nur persönliche ästhetische Vorstellung der Körpergestaltung zu äußern, sondern auch bewusst eine gesellschaftliche oder politische Aussage zu treffen.

Beispielsweise in der Hippie-Bewegung waren die Haare eines der wichtigsten Ausdrucksmittel. Sie richteten sich gegen alles Militärische und Unnatürliche in der Gesellschaft und brachten dies unter anderem damit zum Ausdruck, dass sie ihre Haare natürlich, unfrisiert und lang wachsen ließen. Das Musical ”Hair“ unterstreicht den Stellenwert, den die Symbolkraft von Haaren auf politischer Ebene aufweisen können. Es handelt von den Machtkämpfen, um die es in der Hippiebewegung ging. Gleichzeitig waren zu dieser Zeit Afrofrisuren in Mode gekommen, während verstärkt auf die Rechte von AfroamerikanerInnen hingewiesen wurde.1

Der Stellenwert, der der Frisur und deren „natürliche“ Darstellung zu dieser Zeit beigemessen werden, machen besonders deutlich, dass die Wahl der Frisur genutzt werden kann, eine Ideologie auszudrücken.2 Der Soziologe Tilmann Allert betrachtet das gestaltete Haar als nonverbales Kommunikationsmittel. Als prägnantes Kommunikationsmittel sei es in der Lage, Stolz, Macht und Geltungsanspruch zu demonstrieren.3

Locs im heutigen Mitteleuropa

Historisch betrachtet waren Locs hier zuletzt im 16. Jahrhundert im Form des Weichselzopfes bekannt, welcher jedoch bis in die 1920er Jahre eher in einem medizinischen Kontext stand. Später verboten die geltende Haarmode und starke gesellschaftliche Zwänge die Haare verfilzen zu lassen. Es gibt mehrere mögliche Theorien, wie Locs im heutigen Mitteleuropa wieder an Popularität gewannen:

    • Für AfroamerikanerInnen sind Locs oft ein Ausdruck dafür, dass sie ihre Herkunft nicht verleugnen und auf die gesundheitsschädigenden chemischen Mittel zur Glättung des meist krausen Haares verzichten. Dem politischen Zeitgeist der 1970er Jahre entsprechend und mutmaßlich auch um sich solidarisch zu zeigen (Stichwort Musical „Hair“), übernahmen auch viele weiße AmerikanerInnen und weiße EuropäerInnen im Rahmen von Friedensbewegungen und der Hippiekultur diesen Gedanken und ließen ihr Haar ebenfalls in Strähnen verfilzen. Gerade der weltbekannte Reggae-Künstler und Rastafari Robert Nesta Marley (Bob Marley) hat garantiert zur Popularität von Dreadlocks auch in Europa beigetragen. Vielleicht wurde durch ihn auch der Begriff „Dreadlocks“ nach Mitteleuropa in einem zum Glück wieder positiven Kontext getragen.
    • Vermehrt seit den 1970er Jahren wurden Dreadlocks auch in verschiedenen Subkulturen und eng verknüpft mit den einzelnen Musikrichtungen und als Ausdruck von Natürlichkeit verstanden. Das Gefühl von Freiheit, Antikapitalismus, Naturverbundenheit und Unabhängigkeit wollte auch visuell unterstrichen werden.
    • Mutmaßlich unabhängig von der afroamerikanischen und Rastafi-Kultur ermöglichten verfilzte Haarsträhnen Jugendlichen seit den 1990er Jahren eine Art optisches Statement in Form von Auflehnung gegen elterliche und gesellschaftliche Erwartungen. Gerade im Bereich der Punk-Szene fanden Locs die Funktion, sich von konservativen Verhaltensmustern zu distanzieren.
    • Eine Mischung aus 1. bis 3.

      Ich erachte die Wahrscheinlichkeit als groß, dass irgendwie alle diese Wege dazu beigetragen haben könnten, dass wir heute im Jahr 2021 Locs als eine ästhetische Frisur mit großem Bedeutungspotenzial tragen. Allert macht die Beobachtung, dass im Straßenbild heutiger Großstädte gelegentlich Jugendliche auftauchen, die sich „der hohen und anstrengenden Kunst der Verfilzung ihrer Haare“ widmen und damit nicht nur auf den Kamm als Ordnungsinstrument verzichten, sondern versuchen die Evolution der menschlichen Körperbehaarung vom Fell zum Haar rückgängig zu machen.4

      Damit trifft Allert genau den Punkt, den Dreadlocks heutzutage ausmachen. Ganz gleich in welcher Szene oder Community man sich bewegt, in der Dreadlocks aus religiösen oder modischen Gründen getragen werde, in jedem Fall symbolisieren sie eine gewisse Natürlichkeit und mit ihrem Anblick wird ein gewisses Freiheitsgefühl verbunden.

      Gleichzeitig sind Dreadlocks heutzutage immernoch einem gewissen Klischee ausgesetzt. Viele verbinden mit ihnen den Konsum von Drogen und glauben, dass man Locs nicht waschen kann. Dadurch werden DreadlocksträgerInnen immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. Gerade in den letzten 15 Jahren jedoch gab es in Deutschland eine Entwicklung in der „Dreads-Szene“. Die Haare werden heute mit speziellen Techniken gezielt verfilzt und nicht mehr ausschließlich der Natur überlassen. Damit helfen Dreadlocks-StylistInnen ihren KundInnen, auf artifizielle Art eine natürliche Frisur zu erlangen, also entgegen der im Mainstream geltenden Haarkultur zurück zur Ursprünglichkeit zu gelangen und damit auch ein Statement für ihre Naturverbundenheit oder Unangepasstheit zu setzen.

      In dem szenebekannten Bildband „Dreads“ von Alice Walker5, der die Frisur publizistisch thematisiert, findet sich das Zitat einer Künstlerin über ihre Haare:

      „I never intended my dreadlocks to be a fashion statement. To me, they represent rebellion and self-respect. But today, dreadlocks are considered quite stylish: When I returned to New York, the reaction was ”Wow! Where did you geht your locks done?“ Done? I grew them in the bush in Jamaica!“ (Jivana / Artist, 1999)

      Auch, wenn sogenannte „Dreadheads“ mal keine politischen oder religiösen Gründe für die Entscheidung zu dieser Frisur hatten, so sind Haare eine Materie, der in vielen Völkern eine gewisse Magie zugeschrieben wird und Dreadlocks eine Frisur, die nur selten aus ausschließlich ästhetischen Gründen getragen wird.6

      Dreadlocks und Cultural Appropriation

      Offensichtlich scheinen Locs in vielen verschiedenen Kulturen ihre Heimat zu finden. Trotzdem spielen sie in der Rastafari-Kultur, verschiedenen afrikanischen Kulturen und der afroamerikanischen und damit auch der afrodeutschen Kultur nicht nur eine gesellschaftlich kulturelle, sondern auch eine politische Rolle aufgrund ihrer Symbolkraft. Als Ablehnung des (Post)Kolonialismus stehen Locs hier für viele nicht nur wie bei vielen Weißen für Naturverbundenheit und innere Freiheit, sondern gewissermaßen auch als Symbol eines bis heute andauernden Freiheitskampfes. Aus diesem Grund ist es wichtig, dem Vorwurf der „Kulturellen Aneignung“ (cultural appropriation) als Weiße LocsträgerIn Gehör zu schenken und sich selbst seiner Privilegien bewusst zu werden.

      In einem offenen Brief von BPoC an das umweltaktivistische Klimacamp „Endegelände“ im August 2020 wird die fehlende Sensibilität für das Thema in linken Kreisen, in denen Locs sehr beliebt sind, bemängelt:

      „White Dreads sind leider weiterhin ein Erkennungssymbol von Ökoaktivismus und vielen linken Szenen. Kritik wird oft mit lapidaren Aussagen über „kulturellen Austausch“ abgeblockt. Weißsein weist enge Verknüpfungen mit Macht auf. Es mag schwer sein, die normierende Funktion des eigenen weißenPrivilegs zu akzeptieren, doch können hegemoniale Positionen nicht nur als Teil des Problems Rassismus, sondern ja auch als potentieller Teil der Lösung dessen verstanden werden; sich der eigenen Position in bestehenden Machtverhältnissen bewusst zu sein, diese kritisch zu hinterfragen und sich letztendlich vielleicht dafür zu entscheiden, die Privilegien so zu nutzen, dass sie auch anderen zugutekommen.“
      (Quelle: ende-gelaende.org (Stand Juli 2021))

      Ich muss mir selbst eingestehen, dass dieser Vorwurf auch auf mich zutrifft – bei der Unterstellung von Rassismus durch kulturelle Aneignung denkt auch mein durch weiß sein geformtes und von meiner Privilegiertheit geprägtes Gehirn zu allererst per Ego Response daran, wieviele BPoC ich allein daher kennenlernen durfte, dass wir über unsere ähnliche Frisur eine Brücke und gemeinsame Thematik für einen Gesprächsanfang finden konnten. Ich persönlich habe bisher vor allem sehr positives Feedback von schwarzen LocsträgerInnen erhalten und das Gefühl bekommen, dass die Frisur uns eher zusammenbringt als dass sie bei mir ein Problem darstellt. Allerdings – und hier muss ich meine Schuld eingestehen – trifft dies keine allgemein gültige Aussage über die Legitimierung, sondern es beeinflusst natürlich mein subjektives Empfinden dazu. Und an dieser Stelle muss ich verstehen, dass diese Frisur, die ich länger als mein halbes Leben trage und die ein Teil von mir und meinem Körper ist, anderen weh tun kann.

      Das Wissen darum, macht es mir nicht leicht, das Thema mit einer nötigen emotionalen Distanz zu betrachten. Auf der einen Seite stehen Respekt und die emotionale Unversehrtheit meiner Mitmenschen und auf der anderen Seite stehen meine Freiheitsideale, nach denen jeder Mensch sich gestalten können sollte wie Mensch es möchte. Letzteres ist zwar ideologisch, jedoch ist es wahrhaftig etwas, wofür ich seit vielen Jahren mit der DreadFactory einstehe, woran ich arbeite und was Teil meiner Vision ist. Dieser Punkt hat in meinem Leben also einen außerordentlich hohen Stellenwert und zwar auch, weil ebenfalls Respekt und emotionale Unversehrtheit damit stark verknüpft sind. Für mich persönlich und natürlich als weiße Locs-Stylistin auch beruflich bedeutet dies eine innerliche Zwickmühle, die eine gewisse Zerrissenheit in mir bewirkt.

      Für alle, die nicht so richtig stark in der Thematik drin sind, hilft der folgende Text von Nanni Kunze vielleicht. Anfang diesen Jahres hat sie ein Buch über die Dreadlocks in europäischem Haar veröffentlicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich ihren Text mit einfließen lassen möchte, da sie selbst weiß ist, aber ich finde sie fasst die Kernproblematik, die auch ich aus dem Vorwurf der Kulturellen Aneignung bei Dreadlocks interpretiere, in angenehm einfachen Worten zusammen (und außerdem bin ich ja auch weiß und versuche mich dem Thema der Cultural Appropriation zu stellen, während ich nicht versuche whiteplaning zu betreiben, sondern dieser Text sich ja kritisch und appellierend primär an nicht-BIPoC Dreadheads richtet):

      „Hellhäutige Menschen mit Dreads werden heute mit Naturverbundenheit, Spiritualität oder alternativer Lebenseinstellung assoziiert und das wird meist positiv bewertet. People of Color wurden und werden dagegen eher diskriminiert, denn für diese Menschen wurde Naturverbundenheit mit primitiver Wildheit gleichgesetzt. Für Farbige mit kolonialisierter Heimat und deren Nachfahren bedeutet(e) das Tragen dieser Frisur Protest gegen die Kultur und das Schönheitsideal der weißen Oberschicht. Selbst der eigentlich positive Begriff „Dreadlocks“ wurde von den britischen Kolonialisten auf Jamaika abschätzig umgedeutet, welche die Einheimischen als bedrohlich und abstoßend diskriminierten. Aus den „Ehrfurchtslocken“ wurden „Schreckenslocken“. Manche PoC bevorzugen es daher, ihre Filzsträhnen „Locs“ oder „Locks“ zu nennen. Hierzulande hat sich der Name „Dreadlocks“ allerdings als wertneutraler Terminus durchgesetzt. Für die selbe Frisur erfahren Weiße also eher positive Vorurteile, PoC dagegen negative.

      Diese Ungerechtigkeit existiert leider. Auch wenn Dreadlocks einen zivilisationsübergreifenden Ursprung haben – dass manche Menschen Anstoß an weißen Dreadheads nehmen, muss man wissen. Diese Ansicht hat einen realen und traurigen Hintergrund, daher finde ich persönlich einen sensiblen und empathischen Umgang mit eventuellen Anfeindungen angebrachter als die Defensive.“
      (Quelle: Kunz, Dreadlocks – Wachse über dich hinaus)

      <>Es ist also wichtig zu verstehen, dass Dreadheads je nach Hautfarbe unterschiedlich bewertet werden. Zwar denke ich, dass der konservative/rassistische Vermieter, der der PoC mit Locs keine Wohnung vermieten möchte in den allermeisten Fällen auch der nicht-PoC Person mit Locs keine Wohnung vermieten möchte und natürlich wissen weiße LocsträgerInnen auch, dass Locs auch für sie mit vielen negativen Vorurteilen behaftet sind, jedoch ist dies alles kein Vergleich zu den Vorurteilen und Anfeindungen, die PoC in unserem Land ertragen müssen.

      Dass bei kommerziellen Hippie-Festivals à la Coachella die Vermutung aufkommt, dass Locs ein Fashiontrend sind, den man als privilegierte Weiße jeder Zeit wieder ablegen kann, während man als PoC nunmal gesellschaftlich benachteiligt ist, ist absolut verständlich. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr gewissenhafte weiße Dreadheads, die ihre Locs eben nicht nur als Frisurenmode betrachten, sondern für die Locs eine ganz individuelle Bedeutung haben und die sehr viel Mut aufbringen, sich entgegen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen (Arbeitgeber/Eltern/soziales Umfeld) dazu entschließen, ihrer inneren Freiheit und Liebe durch Locs auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen.

      Ehrlicherweise muss auch erwähnt werden, dass es natürlich auch eine ganze Menge BPoC mit und ohne Locs gibt, die sich für das Tragen von Locs von Weißen aussprechen. Ein bekanntes Beispiel ist der YouTuber Kris McDred, der in seinem Video „Can white people have dreadlocks?“ (Stand Juli 2021, Link) nochmal kulturhistorisch beleuchtet, wer die Berechtigung zum Tragen von Locs hat, bzw. seiner Ansicht nach haben sollte.

      Zusammenfassung

      Es ist ein recht langer Artikel geworden, deshalb möchte ich dir meine Kern-Erkenntnisse nochmal in kurzen Sätzen zusammenfassen:

        • Dreadlocks sind nicht entweder biologisch oder kulturell, sondern aufgrund ihrer biologischen Natürlichkeit sind sie Teil vieler Kulturen geworden. Sobald ein Frisurengestaltungsvorgang vorliegt, ist Kultur immer unbestreitbar mit dem Haar verknüpft. Wichtig ist sicherlich, dass verfilzte Haarsträhnen als Frisur kulturell nicht pachtbar und daher nicht einer einzigen Kultur zugeschrieben werden können. Der Ursprung von Locs liegt nicht in einer Kultur, sondern in unserer Biologie. Die Techniken, mit denen man verfilzte Haarsträhnen zu Locs formen kann, sind für alle Haartypen übrigens nahezu identisch.
        • Der Begriff „Dreadlocks“ ist erst positiv von der Rastafari-Bewegenung konotiert verwendet wurden, dann von den Kolonialmächten negativ bewertet und als Schimpfwort umdefiniert wurden und heute wird das Wort wieder in einem wertneutralen Kontext auch außerhalb der Rastafari-Kultur als allgemeine Bezeichnung (und sogar als Fachbegriff seitens der deutschen Handwerkskammer (Quelle: Link, Stand Juli 2021) für verfilzte Haarsträhnen verwendet. Trotzdem sollte man sich über die Historie des Wortes bewusst sein und damit entsprechend respektvoll umgehen.
        • Bei allen positiven Eigenschaften, die Locs für die Brückenbildung zwischen verschiedenen Kulturen einnehmen können, muss man auch bedenken, dass es Menschen unter uns gibt, die Dreadlocks an Weißen kritisch betrachten und sich verletzt fühlen.

          Ich kann mir vorstellen, dass du nun sehr verunsichert bist, wie du dich respektvoll verhalten sollst, wenn du dich dazu entscheidest, als weiße Person Locs zu tragen. Grundsätzlich musst du für dich selbst entscheiden, wie du mit dem Thema umgehen möchtest. Meine Tipps für dich an dieser Stelle sind, erstens in den Dialog mit BPoC zu treten und zweitens deinem Herzen zu folgen und zu betrachten, aus welchen Gründen du dich für Locs entscheiden würdest oder bereits entschieden hast. Leider gibt es mittlerweile auch diese Wikinger-Fans, die sich offen in der rechten Szene ansiedeln und Locs tragen. In diesem Fall würde ich sagen: „Sorry, aber du kannst gar nicht respektvoll mit dem Thema umgehen, da du per Definition schon ein Rassist bist. Also lass das mit den Locs vielleicht lieber!“

          Mein Wunsch ist es, dass ich dich für diese Thematik dahingehend sensibilisieren konnte, dass du auf den potenziellen (gerechtfertigt) emotionalen Vorwurf der kulturellen Aneignung mit Verständnis reagieren kannst anstatt mit einer reinen Abwehrhaltung. Das bedeutet nicht, dass du beispielsweise als InfluencerIn feministisch radikal motivierte Shitstorms hinnehmen sollst. Ich persönlich trenne hier und habe mich zum Beispiel dazu entschieden, auf radikal politisch motivierte Shitstorms („#weisserassevernichten“/“#enteignung“) radikal nicht zu reagieren und die dazugehörigen Protagonisten ggf. zu blockieren – das hat für mich nämlich nichts mehr mit konstruktivem Austausch zutun. Wozu ich aber anregen möchte ist, dass wir nur dann gemeinsam und in Liebe leben können, wenn wir versuchen, auf den anderen einzugehen und ihm auch den (geschützten) Raum dazu geben.


          Literaturangaben

          • 1 Nina Bolt, “Haare. Eine Kulturgeschichte der wichtigsten Hauptsache der Welt”, Berlin, 2001, S. 94
          • 2 ibid, S. 97
          • 3 Tilmann Allert, “Transitorische Prominenz – Gestaltungsoptionen und Gestaltungsrestriktionen in der Haarpflege”, In: Christian Janecke: Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, S. 99-108 Köln, 2004, S. 99
          • 4 Allert, Transitorische Prominenz – Gestaltungsoptionen und Gestaltungsrestriktionen in der Haarpflege cit.
          • 5 Alice Walker, Dreads. Jivana S. 74, 1999
          • 6 Bolt, Haare. Eine Kulturgeschichte der wichtigsten Hauptsache der Welt cit., S. 199
          • 7 Stefanie Kunz, Dreadlocks. Wachse über dich hinaus, 2021

          Persönliche Anmerkungen der Autorin:

          • Ich habe mit Literatur- und Internetrecherche versucht, einen möglichst umfangreichen Einblick in die verschiedenen Thematiken zu geben. Ich beanspruche nicht für mich, dass dieser Blog-Artikel wissenschaftlichen Standards genügen soll. Ich selbst bin weiß, trage Locs und habe natürlich für mich die Entscheidung zu dieser Frisur getroffen, die gegebenenfalls auch durch meine persönliche Haltung im Artikel widergespiegelt wird. Ich bin ehrlicher Weise nicht ausreichend emotional distanziert, um absolute Neutralität vertreten zu können, aber ich habe mich bemüht durch Quellen aus der BPoC-Community verschiedene Perspektiven zu beleuchten.
          • Ich verwende im Artikel und auch sonst im Leben alle mir bekannten Bezeichnungen für verfilzte Haarsträhnen im Wechsel (Dreadlocks, Dreads, Locs, Locks), um die Vielfalt der Frisur zu unterstreichen und habe hiermit absolut nicht die Absicht, jemanden zu verletzten. Vielmehr hoffe ich, dass wir auf diese Weise den „Dreadlocks“-Begriff weiterhin positiv aufladen können, ohne gleichzeitig von seiner historischen Bedeutung zu sehr abzulenken.
          • Wer mit mir zu diesem Thema gern diskutieren möchte, darf mir sehr gern eine Mail an mail@dreadfactory.de schreiben, jedoch bitte ich dich, von Beitragen in Social Media abzusehen, da dies für mich keine Plattform darstellt, die geeignet ist, um über ein so wichtiges Thema zu diskutieren, ohne die Thematik zwangsläufig verkürzen zu müssen.
          • Dies ist kein politischer Blog, aber dieses Thema liegt mir zu sehr am Herzen, um es hier nicht zu behandeln. Meine anderen Kanäle (Instagram/Youtube/Facebook/Pinterest) werden weiterhin absolut unpolitisch bleiben (zumindest soweit es das mit einer homosexuellen Chefin sein kann). Ich habe sehr lange gebraucht, um das Thema öffentlich anzusprechen, da ich mir zunächst darüber klarwerden musste, wie ich es am besten aufbereite. Manche finden vielleicht, dass das zu lange gedauert hat. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich als lesbische Frau weiß durchaus, wie sich Diskriminierung anfühlt und dass man besser heute als morgen solche Themen ansprechen muss, gerade wenn man als DreadFactory Gründerin eine gewisse Verantwortung trägt. Ich halte übrigens nichts von „blackwashing“ (in Anlehnung an greenwashing, darf man das so sagen?), weswegen ich in unserem Team auch keine Quote einführe, unser Angebot richtet sich aber nach wie vor an alle Menschen mit Haaren auf dem und am Kopf.

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